
1969 in den aufgestauten Fluten des Stausees verschwunden: Das Hotel Mattmark.
Flucht in die Freiheit – Eine vergessene Geschichte im Saastal
Im Herbst 1943, als Europa im Krieg versank, spielte sich in den Walliser Alpen ein kaum bekanntes Kapitel des Zweiten Weltkriegs ab – direkt vor unserer Haustür. Mehr als 500 australische und neuseeländische Kriegsgefangene wagten eine verzweifelte Flucht aus dem Norden Italiens, über die steilen Pfade der Alpen, in die rettende Schweiz. Ihr Ziel: das Saastal. Ihre Hoffnung: Freiheit.
Sie flohen aus dem Lager Campo 106 bei Vercelli, mitten in der piemontesischen Ebene. Die italienische Kapitulation hatte das Land ins Chaos gestürzt, die Wachen öffneten die Tore – und schickten die Gefangenen fort, bevor deutsche Truppen das Gebiet übernahmen. Drei Wege standen ihnen offen: im Lager auf Befreiung hoffen, sich nach Süden zu den Alliierten durchschlagen oder den gefährlichen Weg über die Alpen nach Norden wählen. Viele entschieden sich für Letzteres – für den Weg ins Ungewisse.
Weg voller Gefahr und Menschlichkeit
Es war nicht der Weg selbst, der diese Männer rettete. Es war der Mut und die Mitmenschlichkeit der italienischen Bevölkerung. Bauernfamilien versteckten die Geflüchteten in Heuschobern, teilten ihre letzten Vorräte, gaben Ratschläge, wie man sich als Einheimischer geben musste, und lotsten sie auf geheimen Pfaden durch das zerklüftete Gebirge. Oft unter Lebensgefahr – für Verrat drohten Folter oder Erschiessung.
Im Saastal angekommen, fanden die Flüchtlinge im Hotel Mattmark, das heute unter dem Stausee liegt, eine erste Zuflucht. Schweizer Grenzsoldaten gaben ihnen Tee, Zigaretten – und das erste Gefühl von Sicherheit nach Wochen der Angst.

Die Schuhe von Kriegsgefangenen.
Eine Tochter auf Spurensuche
Jahrzehnte später entdeckte die Australierin Katrina Kittel im Haus ihres Vaters einen alten Koffer mit Fotos, Postkarten und Notizen. Ihr Vater, Colin Booth, war einer jener Männer, die 1943 aus Italien flohen. Die Bilder zeigten Berge, Dörfer – und ein Gebäude, das sich später als das Hotel Mattmark herausstellte. Ihre Recherchen führten sie ins Saastal und in die Vergangenheit. In ihrem Buch Shooting Through erzählt sie nicht nur die Geschichte ihres Vaters, sondern auch die vieler anderer, deren Überleben nur dank der Hilfe mutiger Zivilisten möglich war.

Australische Soldaten vor dem Hotel Monte Moro in Saas-Almagell
Erinnerung, die weiterlebt
Heute folgen die Nachkommen der damaligen Flüchtlinge den Spuren ihrer Väter und Grossväter. Der „Trails to Freedom Walk“ – eine 96 Kilometer lange Gedenkwanderung über fünf Bergpässe – lässt erahnen, welche Kraft und Entschlossenheit nötig waren, um diese Route mit kaum mehr als löchrigen Schuhen und wenigen Vorräten zu überstehen.
Es ist eine Geschichte von Flucht und Furcht – aber auch von Solidarität, Hoffnung und stiller Grösse. Eine Geschichte, die uns daran erinnert, dass Menschlichkeit auch in den dunkelsten Zeiten leuchten kann. Und dass das Saastal für einige hundert Männer aus einer fernen Welt zu einem Ort der Rettung wurde.
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