Als das Wasser das Saastal heimsuchte

In der Nacht vom 23. auf den 24. September 1920 wurde das Saastal von einer Naturkatastrophe erschüttert. Nach tagelangem Dauerregen brach der übervolle Mattmarksee durch und verwüstete das Tal. Der Allalingletscher spielte dabei eine verhängnisvolle Nebenrolle. Dieser Beitrag erinnert nicht nur an die geologischen und meteorologischen Ursachen des Ereignisses, sondern vor allem an das menschliche Leid – und an die Solidarität, die daraus erwuchs. Im Mittelpunkt steht das Schicksal einer armen Almageller Witwe, deren Geschichte berührt und zum Innehalten einlädt.

Die Schreckensnacht

Pfarrer Alois Kalbermatten schrieb später: „Wahrhaft erschreckend war’s, als auf einmal gegen Mitternacht Vispenwasser neben meiner Wohnung vorbeirauschte und das Hotel Portjengrat mitten in den brandenden Wogen stand.“

Durch Presseberichte war auch das Ehepaar Keller in Zürich auf die Katastrophe aufmerksam geworden. In einem Brief vom 12. Oktober 1920 dankte Pfarrer Kalbermatten Trudi Keller herzlich für ihre Anteilnahme im Namen ihres kranken Mannes. Er schrieb: „Die echte Freundschaft fühlt mit.“

Doch was war in jener Nacht genau geschehen?

Zunächst sah alles nach einem altbekannten Phänomen aus: Ein Abbruch des Allalingletschers hatte das Bachbett der Vispa verschüttet, das Wasser staute sich – bis es sich mit zerstörerischer Kraft Bahn brach. Doch diesmal war es nicht der Gletscher allein, der das Unheil brachte. Sintflutartige Regenfälle hatten innerhalb von zwei Tagen den Pegel des Mattmarksees so weit ansteigen lassen, dass sich der See schliesslich über die Ufer ergoss.

Der Meteorologe Otto Lütschg – Hydrologe am Eidgenössischen Amt für Wasserbau – hatte am Ausfluss des Sees eine Messstation errichten lassen. In jener Nacht wurde sie von der gewaltigen Flut hinweggerissen. Der See entleerte sich schlagartig durch einen natürlichen Tunnel unter der Gletscherzunge. Doch dieser brach unter dem Druck teilweise ein, riesige Eisblöcke wurden mitgerissen und bis nach Zermeiggern transportiert – was den Eindruck verstärkte, der Gletscher selbst habe die Flut verursacht.

Ein Tal unter Wasser

Otto Lütschg reiste bald ins Tal, um die Folgen der Katastrophe zu dokumentieren. Seit Jahren war er im Auftrag der Lonzawerke und der Landeshydrographie im Saastal tätig. Nun sah er ein verwüstetes Tal. Bei Zermeiggern hatte sich die Vispa ein neues Bett gegraben, kam bedrohlich nahe an die Häuser und überflutete fruchtbares Kulturland.

Besonders dramatisch war die Situation in Almagell. Lütschg schrieb: „Um die Mitternachtsstunde wälzte die brausende Flut viel Holzwerk an die Brücke beim Hotel Portjengrat, sodass der Durchfluss des Wassers gehemmt wurde. Das zurückgestaute Wasser trat über das rechte Ufer, überflutete Wege, Wiesen und Keller. Innerhalb weniger Minuten wurden die Fundamente des Hotels Portjengrat angegriffen, der Vorplatz mit Blöcken übersät, das Erdgeschoss mit Schlamm gefüllt. Die Brücke wurde schliesslich von der Gewalt des Wassers weggerissen. Die Wassermassen spülten unterhalb des Hotels 10’500 m² Kulturland sowie einen Stadel fort.“

Hilfe für die arme Witwe

In den grossen Schweizer Tageszeitungen fand das Unglück im abgelegenen Tal nur wenig Beachtung. Zu weitreichend waren die Schäden in mehreren Kantonen – Graubünden, Tessin und Wallis. Die Gotthardbahn war unterbrochen, ebenso die Verkehrsachsen durchs Rhonetal.

Doch im Saastal wog der Verlust schwer. Viele Bauern lebten ausschliesslich von ihrem kargen Land. Für eine arme Witwe in Almagell wurde die Katastrophe zur existenziellen Bedrohung. Pfarrer Kalbermatten schrieb: „Besonders schwer drückt die Not einer armen Witwe aufs Herz, die nebst viel Matthang auch den Speicher samt Inhalt – Vorrat an Speisen und Kleidern – in den tobenden Wogen dahin schwimmen sehen musste. Ihr und den Kindern blieb nur das Kleid am Leibe.“

Die Witwe war Crescentia Andenmatten, geborene Zurbriggen, Mutter von vier Kindern. In einem weiteren Brief vom 29. Oktober nannte der Pfarrer den Zürcher Freunden ihre Namen: „Die Witfrau Crescentia Andenmatten hat vier Kinder – einen Knaben von 13 Jahren und drei Mädchen von 8, 10 und 15 Jahren.“

Alfred Keller rief in seinem Bekanntenkreis zu Spenden auf. Eine Geldsendung von 50 Franken – damals der Monatslohn eines einfachen Arbeiters – traf in Almagell ein. Pfarrer Kalbermatten bedankte sich am 10. November bewegend: „Ich bestätige den Empfang der 50 Fr. für die arme Witwe und danke Ihnen im Namen derselben herzlich. Möge es Gott Ihnen lohnen – mit Gesundheit, damit mir die Freude werde, Sie mit Ihrer Frau im nächsten Sommer hier zu treffen.“

Neben Geld kamen auch Sachspenden. Der Basler Architekt Otto Pfleghard antwortete auf Kellers Bitte: „Ich bin gerne bereit, etwas zur Linderung der Not beizutragen – sei es durch Listensammlung oder direkte Sendung an Herrn Pfarrer Kalbermatten. Leider haben wir keine Kinderkleider, da solche von allen Seiten verlangt werden.“

In Basel formierte sich unterdessen ein Unterstützungskomitee. Am 14. Oktober 1920 erschien in den Basler Nachrichten ein Aufruf unterzeichnet von Hermann Christ, Pfarrer Ludwig Emil Iselin und zwei Vorstandsmitgliedern der SAC-Sektion Basel.

Ein Leben voller Prüfungen

Crescentia Zurbriggen war 1880 in Almagell geboren. 1904 heiratete sie Viktor Andenmatten, mit dem sie ein einfaches Bergbauerngut bewirtschaftete. Die Familie besass nur eine Kuh. Das Leben war karg, aber stabil – bis zum Oktober 1912. Viktor starb bei einem tragischen Unfall, als er eine Last Holz nach Hause trug und sich auf einem losen Stein ausruhen wollte. Der Stein kippte – und erschlug ihn.

Damals war das jüngste der vier Kinder erst 42 Tage alt.

Die Flut von 1920 raubte Crescentia Andenmatten dann auch noch den letzten Besitz. Die Eheringe, die Hochzeitskleider – alles verloren. Um ihre Kinder durch den Winter zu bringen, kochte sie zuletzt sogar die Saatkartoffeln. Doch sie bewahrte die Keime sorgfältig auf, pflanzte sie im Frühling – und wurde mit einer besonders guten Ernte belohnt.

Ein letztes schweres Schicksal traf die Familie 1932: Ihr einziger Sohn Adolf starb überraschend im Inselspital Bern, kaum 24 Jahre alt. Die älteste Tochter Maria begleitete den Sarg auf einem Holzschlitten ins Tal zurück. Doch ein Gerücht ging um – man fürchtete eine ansteckende Krankheit. Aus Angst wurde die Mutter mit den jüngeren Töchtern während der Beerdigung im Haus eingesperrt. Nur Maria durfte den Bruder zur Kirche begleiten. Das Wohnhaus wurde desinfiziert – ohne ärztliche Anordnung, berichten die Nachkommen.

Ob die Sorge berechtigt war, bleibt ungewiss. Die Krankenakten aus dem Inselspital existieren nicht mehr. Was bleibt, ist die Erinnerung an eine Frau, die trotz aller Härten für ihre Familie kämpfte – mit Würde, Mut und einer Findigkeit, die das Leben im Hochgebirge wohl immer schon verlangte.

Von Margrit Wyden aus dem Buch

Von Alpenblumen und Menschen

Ein Bericht von Walter Kalbermatten

Schicksalschlag für Creszentia

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By Published On: 5. August 20250 Comments on Die Flutkatastrophe von 1920Categories: Saastal, Wasser Eis